Beim Yiquan liegt der Schwerpunkt auf dem Yi – der Vorstellungskraft. Was im Taiji-Unterricht stets betont wird, „mit Vorstellung, ohne körperliche Kraft“ zu üben, wird hierdurch leichter verständlich: „Yi ist Kraft“. Man lernt eine sehr direkte Methode, um die innere Kraft zu spüren und zu steuern. Während seiner Lehrjahre erfuhr Wang Xiangzhai, dass viele heilgymnastische Übungen wie das Taiji und die meisten Qigong-Stile durch die Stilisierung und Systematisierung über Generationen hinweg immer mehr an Wirksamkeit verlieren würden, sowohl zur geistigen, therapeutischen und kampftechnischen Entfaltung. Er erkannte, dass sich seine Schüler aus diesen Gründen viel zu sehr auf die äußeren Bewegungsabläufe und Positionen konzentrierten, anstatt die Kernelemente der inneren Kampfkunst zu trainieren. In den meisten Taiji-Schulen steht die Korrektheit der Formausübung im Vordergrund des Trainings und ist heute Gegenstand von Wettbewerben. Ohne einzig und allein eine typische Bewegungsabfolge (wie im Taiji) oder Daolu bzw. Kata (wie in den meisten äußeren Kampfkünsten) wiederholt zu üben ließen aus Xingyiquan (Kampfkunst der Form aus Konzentration) Yiquan (Keine äußere Form im Sinne einer festgelegten Bewegungsabfolge, sondern Betonung der Konzentrationsarbeit) werden.
Was bewirkt Yiquan?
Die Übungen des Yiquan reichern das Qi an. Im Gegensatz zu äußeren Kampfkünsten oder westlichen Sportarten stellt hier der Geist keine übermäßigen Anforderungen an den Körper, sich durch den erzwungenen wiederholten Leistungszwang zu verausgaben. Die Übungen sind fließend, sanft und harmonisch und erfordern ein Minimum an körperlicher Anstrengung, stellen jedoch gewisse mentale Anforderungen an die Vorstellungskraft des Übenden. Der Geist bzw. die Vorstellungskraft arbeitet dabei mehr, der Körper durch die völlige Entspannung weniger. Es entsteht eine Form von überschüssiger Energie im Körper. Viele Leistungssportler trainieren ihre Bewegungsabläufe auch mental, jedoch vor der körperlichen Ausführung. In der Systematik des Yiquan erfolgt die geistige Tätigkeit während der harmonischen Bewegungen. Das auf geistiger/psychischer Ebene durch die Vorstellungskraft gewonnene Kraftpotenzial wird dadurch in die körperlichen Bewegungen integriert und dadurch die Einheit von Körper und Geist hergestellt. Auf diesem Weg werden Gesundheit und Kampfkunst gleichermaßen gepflegt. Ohne den Einsatz eines gewissen Maßes an muskulärer Kraft bleibt Yi allerdings nur eine Phantasieübung des Geistes, vergleichbar mit dem Träumen. Dies wäre eine Fehlinterpretation der klassischen Texte und führt ebenso wie das Gegenteil, d.h. übermäßiger Gebrauch reiner Muskelkraft, zu keinen brauchbaren Ergebnissen. Die Übungen sind eine hervorragende Ergänzung zum Training des Taijiquan. Sie bilden eine ideale Basis für das Training der Taiji-Form und wirken besonders auf der Ebene der Taiji-Partnerübungen. Auch viele andere Sportarten können von der Wirkung des Yiquan entscheidend profitieren. Laut chinesischen Studien können die Übungen den Krankheitsverlauf vieler auch bereits chronischer Krankheiten positiv beeinflussen. Der Kreislauf wird reguliert und das Immunsystem gestärkt. Eine stehende Position für eine gewisse Zeit zu halten stellt ein Fundament dar, von dem aus fließende Bewegungen von einem Punkt oder Zentrum ausgehend beginnen können. Auf diese Weise entstehen keine Unsicherheiten, weder in der äußeren Form noch im Bewusstsein, da man von der bewegungslosen Ruhe in die Bewegung übergeht. Zhang Zhuang sollte nicht nur solange geübt werden, bis man geschmeidig und ohne Anstrengung stehen kann. Das Üben des Zhang Zhuang hilft, das Fließen des Qi und den Blutstrom im Körper zu regulieren und zu normalisieren. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass verschiedene Körpertypen zu bestimmten Stärken und Schwächen neigen. Hier kann Zhang Zhuang helfen, individuelle Defizite zu überwinden, die sich in späteren Entwicklungsstufen des Übens als hinderlich erweisen würden.
Die im Yiquan praktizierten Vorstellungsübungen beziehen sich auf das Nervensystem und stärken unsere Geisteskraft. Zusammen mit sanften körperlichen Bewegungen ausgeführt entsteht ein isometrisches Training unter höchstmöglicher Entspannung des Körpers.
In seinem Kampfkunstaspekt hilft uns Yiquan, die Fähigkeit zur explosiven Kraftentfaltung zu entwickeln. Durch seine positiven Auswirkungen auf das Nervensystem steigt die Reaktionsfähigkeit beachtlich. Plötzlichen Krafteinwirkungen auf den Körper, z.B. durch einen Gegner kann adäquat und auf instinktive Weise begegnet werden. Das gesamte Nervensystem wird gestärkt und die Fähigkeit der sensiblen Körperwahrnehmung entwickelt. Der Körper lernt, spontan zu reagieren. Yiquan nutzt somit die dem Körper innewohnenden Selbstverteidigungsfähigkeiten. Auf Techniken wird weitgehend verzichtet Voraussetzung hierfür ist es, während des Übens übertriebenen Enthusiasmus oder starke Emotionen auszuschalten. Emotionen trüben unser Bewusstsein und verhindern subtileres inneres Wahrnehmen. Wir sind es gewohnt, unsere Haltung von Gefühlen und Willenskraft leiten zu lassen. Yiquan sucht die Abhängigkeit von durch den Willen gesteuerte Kraft auszuschalten bzw. zu entkoppeln.
Yiquan ist eine Zusammenfassung von Übungsprinzipien für die Entwicklung der inneren Kraft. Die Übungen haben eine unmittelbare Wirkung auf das energetische Befinden des Übenden, seine Beweglichkeit und körperliche Kraft werden ohne Verausgabung trainiert. Es stellt sich schon nach relativ kurzer Übungszeit ein Gefühl der Ausgeglichenheit und eine größere Gelassenheit gegenüber den Anforderung des täglichen Lebens ein. Der Übende fühlt sich in seinem Wesen stärker verwurzelt. Körperliche Kraft und körperliche Entspannung entwickeln sich Hand in Hand. Der Übende entwickelt eine sanfte Kraft, die sich von reiner Muskelkraft völlig unterscheidet. Diese Übungsprinzipien liegen allen inneren Kampfkünsten zu Grunde. Vielerorts, auch in China, werden diese Prinzipien zu Gunsten dem Erlernen von Formen und Bewegungsabläufen vernachlässigt. Sie sollten jedoch integraler Bestandteil eines jeden Taiji- bzw. Qigong-Trainings sein, um wieder an die Wurzeln dieser Künste zurückzukehren, bevor deren Schönheit in ihrem ganzheitlichen Umfang in Vergessenheit gerät.
Die moderne Betrachtungsweise
Alle Bewegungserscheinungen sind Muskelbewegung und die Muskelbewegungen werden vom Zentralnervensystem kontrolliert und gesteuert. Durch effektives Training kann man ca. 50% – 70% der Muskelleistung freisetzen und entwickeln. Das verbleibende Potenzial kann man nur mit Hilfe der mentalen Vorstellungskraft erwerben. Mit dem mentalen Training kann man demnach den nicht genutzten Rest der Muskulatur zusätzlich entwickeln. Die Übungen des Yiquan bewirken, das dass im Gehirn gelegene Bewegungszentrum (motorisches Zentrum, bzw. der Motokortex) trainiert wird, indem die jeweiligen Muskeln, in einigen Übungen sogar isoliert von anderen Muskelgruppen, von hier aus längere Zeit kontrahiert werden. Dies geschieht durch den bewussten Einsatz von Yi, also der Intention, Absicht, Aufmerksamkeit oder Vorstellungskraft. Hierdurch wird speziell das Signalverarbeitungssystem des Zentralnervensystems trainiert. Dieses besteht aus entsprechenden Nervenzellen von Gehirn, Rückenmark und Muskeln. Im Gegensatz zum westlichen Krafttraining und Bodybuilding wird hier nicht die Anzahl und Dicke der Muskelfasern erhöht sondern Funktion und Anzahl, also die Quantität und vor allem die Qualität der Synapsenverschaltungen und der Nervenendplatten. Dadurch wird die Informationsübertragung deutlich verbessert. Durch die schnellere Signalverarbeitung, verbesserte Reflexe werden bei einer Entspannung, wie auch bei einer Anspannung eines Muskels mehr Muskelfasern einbezogen und die Leistungskapazität des Muskels wird besser ausgelastet und es kann mehr Kraft in einer kürzeren zeitlichen Spanne freigesetzt werden.
Ein weiterer Effekt des Yiquan-Trainings ist die Art der beanspruchten Muskelfasern. Stark vereinfachend können die Muskelfaser(gruppen) danach unterschieden werden ob sie für die Bewegungsausführung verantwortlich sind oder ob sie eher der Aufrechterhaltung unserer Körperstruktur gegen die Schwerkraft dienen. Diese Unterteilung ist natürlich rein künstlich, dient jedoch zu Anschauungszwecken. Die für die Bewegungsausführung zuständigen Muskelfasern nennen wir zu diesem Zweck „Mobilisatoren“ und die für die Stabilität verantwortlichen Muskelfasern können als „Stabilisatoren“ bezeichnet werden. Sie beinhalten die „gelenkstabilisierenden Muskeln“ und die „Kernhaltemuskulatur“. Die für unsere Bewegungen verantwortlichen Mobilisatoren haben die Eigenschaft, sich schnell zu verausgaben, während die Stabilisatoren eine deutlich höhere Kondition bzw. Ausdauer besitzen.
Während der Zhang Zhuang Übungen lernt man durch das bewegungslose Stehen, die Stabilisatoren einzusetzen. Man geht dabei über den Punkt der Leistungsfähigkeit der Mobilisatoren hinaus, bis diese die Stabilisatoren „zu Hilfe rufen“. Anfänger erleben dies als heftiges Muskelzittern und Schütteln des ganzen Körpers. Mit fortschreitendem Training gewöhnt sich die Muskulatur an die effiziente Aufgabenverteilung. Auch hier spielt das Nervensystem eine entscheidende Rolle. Wichtig ist, dass im Falle der Stabilisatoren nicht isolierte Muskelgruppen zum Einsatz kommen, sonder immer das gesamte System (der Stabilisatoren) zum Einsatz kommt. Kein Körperteil bewegt sich aus diesem Grunde isoliert, sondern wenn sich ein Teil bewegt, bewegen sich alle Teile! Mit Hilfe von Yi wird der Motokortex stimuliert und von hier aus insbesondere die gelenkstabilisierenden Muskeln kontrahiert und wieder entspannt, während die Mobilisatoren jedoch möglichst entspannt bleiben. Dies hat gleichzeitig wieder einen positiven Effekt auf das propriozeptive Signalverarbeitungssystem. Dieses besteht aus entsprechenden Nerven- und Sinneszellen von gehirn, Rückenmark, Muskeln und gelenken besteht. Die propriozeptiven Sinneszellen befinden sich in den Gelenkflächen, der Gelenkkapseln, Sehnen und Bändern und in den das Gelenk umgebenden Muskeln. Sie leiten Informationen über die Gelenkbewegungen an das Zentralnervensystem weiter. Sie messen laufend den Muskeltonus und die Winkelstellung der Gelenke. Im Zentralnervensystem werden darüber hinaus Reflexbildende Voraussetzungen geschaffen. Insbesondere entsteht dadurch ein „Muskelgedächtnis“ für die Bewegungen und ein „automatischer“ Bewegungsablauf wird ermöglicht.
Der entscheidende Faktor ist hier, dass die Präzision unserer Bewegungen davon abhängt, wie präzise diese vorher eingespeichert werden. Dadurch entsteht die Fähigkeit bspw. vieler Taiji-Meister, minimale, höchst präzise Bewegungen zu vollziehen. Hier zeigt sich auch die Bedeutung von Yi, der Achtsamkeit im „Einprogrammierungsprozess“. Nach Meinung der klassischen Schriften muss auch die Taiji-Form 1000mal geübt werden, bevor man überhaupt an Kampfkunstanwendungen denkt. Durch Achtsamkeit werden damit die körperlichen Voraussetzungen geschaffen. Es folgt ein inneres Loslassen und Sinken der Körperstruktur und des Körperschwerpunktes, dadurch wird die Körperstatik erheblich verbessert. Man kann sagen, dass der Hauptteil der Yiquan-Übungen die Propriorezeption (Eigenwahrnehmung) des Körpers gezielt fördern.